Text zur Entwicklung der Computerspiele

aus BASIC COMPUTER SPIELE (Sybex Verlag)

Herausgeber: DAVID AHL

Du sitzt in einem weich gepolsterten Sessel, der nur ganz geringfügig vibriert. Plötzlich fühlst du einen Stoß, und der Bildschirm, der vorher schwarz war zeigt die aufsteigende Form eines Mondkommandoschiffes. Es umkreist weiterhin den Mond, während du mit der LEM (Mondlandefähre) auf dem Mond landest und ihn erforschst. Der Bildschirm zeigt jetzt an, daß du zu taumeln anfängst, dann drückst du den Knopf am rechten Steuerknüppel, um den Steuerbord-Stabilisierungsraketen eine kurzen Treibstoß zu geben. Noch ein paar Treibstoffstöße rechts, dann links, dann wieder rechts, und der Bildschirm zeigt an, daß die Fähre stabilisiert ist und du störungsfrei, wenn auch ziemlich schnell, Richtung Mondoberfläche schwebst. In panischer Angst erkennst du, daß du zu viel Zeit mit den Stabilisierungsmanövern verbraucht hast. Daher wirfst du die Rückschubraketenkontrolle auf Vollast. Der Bildschirm ist jetzt durch die Flammen gestört und du schaltest deshalb zur Computeranzeige um, die dir die Raumfähre und ihre Position während der Annäherung zum Mond anzeigt. Es gelingt dir, die Fähre abzubremsen, jedoch mußt du feststellen, daß du dich einer Kraterseite näherst und keine Zeit mehr hast, um Lageänderungsmanöver vorzunehmen. Du schaltest wieder den Bildschirm ein und hoffst auf das Beste. Unglücklicherweise sind die Kraterwände steil und ein Bein der LEM kommt vor dem anderen auf. Es knickt ein und die Fähre überschlägt sich. Nun erhältst du eine Nachricht von der Bodenkontrolle in Houston: ,,Grundtelemethrie berichtet schwere Beschädigungen der Fähre. Du hast für 13,2 Tage Sauerstoff. Nachricht über Rettungsversuche folgt. Verliere nicht den Kopf."
Du drückst einen anderen Knopf auf der Konsole und am Bildschirm erscheint: ,, Mondlande-Simulation abgeschlossen. Versuchst du es noch einmal?" Mit feuchten Händen lehnst du dich im Sessel zurück und tippst ein: ,,Nein. Jetzt Fußball." Einen Augenblick später tauchen am Bildschirm ein Schiedsrichter und die unförmigen Umrisse von Gerd Müller auf. Der Schiedsrichter wendet sich zu dir und fragt: ,,Kopf oder Zahl?" Weit her geholt? Überhaupt nicht. Technisch ist das heute durchaus möglich. Vom wirtschaftlichen Standpunkt aus wird es noch ein paar Jahre dauern, bis Systeme mit diesen Fähigkeiten in die greifbare Nähe des Durchschnittsverbrauchers rücken. Aber es sind sogar heute schon einige erstaunliche Spiele mit den gegenwärtigen Heimcomputer-Produkten möglich.

Computerspiele sind kein neues Phänomen. Schon 1952, kurz nachdem die ersten kommerziellen Computer eingeführt wurden, schrieb A. L. Samuel bei IBM ein Dame-Programm für die IBM 701. Es wurde mit der Idee geschrieben, daß man einen großen Teil über die menschlichen Denkvorgänge lernen könnte, falls man sie in einem Computer nachahmen kann. Aus demselben Grund schrieben Newell, Shaw und Simon von der Rand Corporation ein paar Jahre später das erste Computer-Schachprogramm. Diese Programme boten sogar für den Laien in künstlicher Intelligenzforschung als Spiele viel Spaß, obwohl sie nicht besonders gut Schach oder Dame spielten.
Während diese Programme als Teile von Forschungsprogrammen entstanden, schrieben und spielten viele Leute heimlich Spiele vor und nach der Arbeit sowie während der Mittagspause auf dem Computer des Arbeitgebers. Es gab immer mindestens zwei oder drei Spielefanatiker in jeder Computerinstallation jeder Größe. Die Einführung der Minicomputer und Timesharing-Netzwerke in den 1960ern erweiterte diese Gruppe der Computerenthusiasten und ab 1966 trafen sie sich bei verschiedenen beruflichen Anlässen und legten Pläne für ein Computer- Schachturnier fest.
Dieser harte Kern von Enthusiasten, die wirklichen Kulttreiber, waren jene, die sich mit Spacewar beschäftigten. Es reicht zurück in die Jahre 1961-62, als einige von ihnen an der Elektrotechnik-Abteilung des MIT Spacewar für eine DEC PDP-1, den ersten Minicomputer, schrieben und eine fanatische Gemeinde von Enthusiasten entstand, die spielten, änderten, verbesserten und damit experimentierten.
,,Ah, Spacewar. Ständig sind zu jeder Nachtzeit Hunderte von Computertechnikern auf den Beinen, vom Computer an die Bildschirme gebannt, in ,auf Leben oder Tod'-Weltraumschlachten jeweils für Stunden verstrickt, ihre Augen zestörend, ihre Finger gefühllos machend durch das wilde Drücken von Kontrollknöpfen, mit Freuden ihre Freunde schlachtend, und verschwenden die wertvolle Computerzeit ihrer Arbeitgeber. Etwas Grundlegendes geht hier vor. (Steward Brand in II Cybernetic Frontiers.)"

Nachricht: 10. Oktober 1972. Die PDP-10 im Stanford Labor für künstliche Intelligenz ist ab 20.00 Uhr für die ,,Inter-Sternen-Spacewar-Olympiade" reserviert.

Nachricht: Oktober 1976. Cromemco kündigt Spacewar für den 8080 und TV Dazzler zum Preis von $15,- an.

Für den Uneingeweihten übersetzt, bedeuten diese zwei Nachrichten, daß sich innerhalb von vier Jahren Spacewar von einem Spiel, das einen mehrere Millionen Dollar-Computer benötigte, zu einem Spiel an einem 1000-Dollar-Heimcomputer entwickelte.
Was geschieht mit einem fanatischen Kult, wenn die Tempeltore geöffnet werden und jedermann die Schätze in sein eigenes Haus tragen kann? Offen gesagt wissen wir das nicht, da der Tempel noch nicht so lange offen ist, aber es scheint, daß die Kinder dieser Generation, die infolge des Taschenrechners weder Kopfrechnen noch einen Rechenschieber benutzen können, lernen werden, daß ein Femsehgerät aktiv berausfordemde Dinge bringen kann und nicht nur ein paar passive Bilder.

* Steward Brand II Cybernetic Frontiers, New York Random House, 1974.




David H. Ahl September 1978

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